Quo vadis, Deutschland?

Wie geht es weiter nach Corona? Wo liegen die Beschleuniger, wo die Bremsen des Aufschwungs? Ein Streiflicht.
Illustration: Agata Sasiuk
Illustration: Agata Sasiuk
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Das hatten wir vor einem Jahr nicht gedacht: Immer noch hat die Corona-Pandemie Europa im Griff. Teils steigende Fallzahlen und neue, ansteckendere Virus-Varianten haben viele Mitgliedstaaten zu erneuten oder schärferen Eindämmungsmaßnahmen gezwungen. Derweil geben die Impfkampagnen Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Als erstes Bundesland hat Schleswig-Holstein die Maskenpflicht abgeschafft und durch die 3G-Regel ersetzt – als Maskenfreiheit für Anwesende, die  geimpft, genesen oder getestet sind. Und das deutsche Unternehmen Biontech hat angekündigt, die Zulassung seines Corona-Impfstoffs für fünf- bis elfjährige Kinder zu beantragen.

 

Viele Aufträge, fehlende Rohstoffe

 

Das Wachstum dürfte mit den Lockerungen Fahrt aufnehmen. Wie stark, darüber gehen die Ansichten auseinander. Im Mai hatte die OECD für Deutschland für 2021 ein Wachstum von 3,3 Prozent prognostiziert, 2022 soll die Wirtschaftsleistung dann um 4,3 Prozent zulegen. Das Berliner Institut für Wirtschaftsforschung DIW kassierte hingegen vor wenigen Tagen seine ursprüngliche Prognose, die 3,2 Prozent Wachstum für 2021 voraussagte. Jetzt sind es nur noch 2,1 Prozent. Grund sind aber nicht mangelnde Aufträge für die Industrie, sondern Lieferpro-bleme bei Rohstoffen und Vorleistungsgütern.


Im Sommer hatte die deutsche Industrie wegen Großbestellungen aus dem Ausland sogar neue Aufträge in Rekordhöhe akquiriert. Im Juli stieg das Volumen um 3,4 Prozent gegenüber dem Vormonat, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. „Der Auftragseingang erreichte damit seinen höchsten Stand seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 1991“, so die Behörde.


Nun aber drohen Lieferprobleme den Auftragsboom abzuwürgen. „Alle Welt braucht deutsche Waren, aber Deutschland kann nicht liefern“, sagte Ökonom Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) der ARD. „Aufgrund fehlender Materialien und Vorprodukte gibt es erhebliche Schwierigkeiten, die Aufträge abzuarbeiten“, so Ökonom Bastian Hepperle vom Bankhaus Lampe.


Wenn sich um den Jahreswechsel herum der Produktionsstau nach und nach auflöst, dürfte die deutsche Industrie im Auftaktquartal 2022 durchstarten, so das DIW Berlin. Sei die Pandemie ab Frühjahr 2022 mehr und mehr überwunden, würden auch die gebeutelten Dienstleistungsunternehmen wieder auf Erholungskurs schwenken. Der Konsum werde deutlich zur Wirtschaftsleistung beitragen. Entsprechend haben die DIW-Konjunkturforscher:innen die Prognose für das Jahr 2022 auf 4,9 Prozent angehoben.

 

Hohe Preise

 

Eine weitere Folge der Lieferprobleme sind steigende Preise für Rohstoffe. Besonders die Baubranche und die Industrie leiden unter der Entwicklung. Das zeigt jüngst eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln unter 2.000 Unternehmen. Danach erwarten 80 Prozent der deutschen Unternehmen mittelstark oder stark steigende Preise, weil Rohstoffe sich verteuert haben und Vorleistungen knapp sind. 70 Prozent der Unternehmen berichten von mittelstark oder stark steigenden Energiepreisen. Etwa jedes zweite Unternehmen gibt an, die höheren Preise in hohem oder mittlerem Ausmaß weitergeben zu können. Das treibt vorübergehend die Verbraucherpreise in die Höhe: Im Vergleich zum Vorjahr stiegen sie im ersten Halbjahr 2021 um 1,8 Prozent.


Für die gestiegenen Energiepreise sind laut IW Köln neben den Lieferengpässen gestiegene Rohölpreise und höhere Energiesteuern verantwortlich. Eine Teuerung von durchschnittlich 25 Prozent verzeichneten die Holzpreise und belasten damit besonders die Baubranche. Verantwortlich für die Knappheit sind Waldbrände in Kalifornien sowie geringere Holzexporte aus Russland. Mit dem Ende von Lieferengpässen bis Ende des Jahres dürfte die derzeit hohe Nachfrage nach Gütern aber gedeckt werden. Bis dahin könnten die Preise aber noch weiter steigen, warnte das IW Köln.

 

Stockende Energiewende

 

Ein weiterer Hemmschuh für die Entwicklung ist der langsame Ausbau der Erneuerbaren Energien, vor allem der Photovoltaik und der Windkraft. Laut Bundesregierung soll bis 2030 der Anteil der Erneuerbaren im Strommix auf 65 Prozent steigen – ein Ziel, das infolge der neuen Klimaziele wohl noch angehoben werden muss. Das letzte fossile Kraftwerk könne erst dann abgeschaltet werden, sobald es genug Strom aus Wind und Sonne gebe, so das IW Köln: „Anstatt über ein fixes Ausstiegsdatum zu streiten, sollten vielmehr die Ausbaupfade der Erneuerbaren und vor allem deren Umsetzung in den Mittelpunkt der Diskussion rücken.“


Der Ausstieg funktioniere am effektivsten, wenn Erneuerbare Energie die Kohle vom Markt verdränge. Zusätzlich steigt der Druck auf die Kohle durch einen steigenden CO2-Preis. Je teurer fossile Energieträger seien, desto eher rechneten sich klimaneutrale Alternativen. Das sei auch dringend nötig, da der Strombedarf deutlich steigen werde, vor allem durch mehr Elektroautos und umweltfreundliche Wärmepumpen. „Öffentlichkeitswirksame Zielmarken reichen nicht“, so IW-Ökonom Andreas Fischer. „Es müssen auch Taten folgen. Wir brauchen mehr Flächen und weniger planungsrechtliche Hindernisse.“ Zudem bedürfe es schnellerer, unbürokratischer Genehmigungsverfahren. Nur so könne der Ausbau tatsächlich vorankommen.


Und was ist mit der Inflation, die zuletzt auf 3,9 Prozent stieg und damit die angepeilte Marke der Europäischen Zentralbank von 2,0 Prozent weit überstieg? Kein großes Problem, beruhigte der DIW-Präsident Marcel Fratscher gegenüber dem Spiegel. Die Teuerung sei eine willkommene Normalisierung der Preise. Die Preisentwicklung von 2019, von 2020 und 2021 zusammen habe im Durchschnitt deutlich unter den angestrebten zwei Prozent gelegen. „Die Energiepreise sind letztes Jahr abgestürzt und Preise sind auch durch die temporäre Mehrwertsteuersenkung gesunken. Jetzt steigen sie wieder. Das sind Basiseffekte.“ Inflation werde dann problematisch, wenn sie sich verfestige. Etwa, indem die Löhne sehr stark stiegen: „Davon sind wir meilenweit entfernt.“

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