VERNETZTE PRODUKTION

In der nächsten industriellen Revolution wachsen die physische und die digitale Welt immer weiter zusammen.
Illustration: Wyn Tiedmers
Klaus Lüber Redaktion

Kaum ein Land ist in dieser auch Industrie 4.0 genannten Technologie weiter als Deutschland. Auch für den Bereich Künstliche Intelligenz, im Consumerbereich im Augenblick eine Domäne von Ländern wie den USA und China, ergeben sich dadurch große Chancen. Intelligente Systeme könnten die Datenströme von Industrie 4.0 noch besser nutzbar machen.

 

Es war eine erwartbare Frage, die Wolfgang Wahlster, Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und langjähriger Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), in einem Handelsblatt-Interview im Februar 2019 gestellt wurde. „Es heißt, Deutschland liegt im Bereich KI weit zurück. Stimmt das?“, wollte die Journalistin wissen. Das verneinte der Experte so klar, dass die Journalistin etwas ungläubig nachhaken musste: „Sie behaupten ernsthaft, wir sind spitze im Bereich der Künstlichen Intelligenz?“ Wahlsters Antwort: „Durchaus.“


Tatsächlich ist gerade so viel vom im Bereich Digitaler Transformation angeblich so abgehängten Deutschland die Rede, dass eine solche Einschätzung in der Tat etwas verblüffen kann. Schließlich ist die digitale Infrastruktur, daran lässt sich nicht rütteln, in einem nicht gerade guten Zustand. Auch beim Thema Digitaler Bildung gehört Deutschland nicht gerade zu den Vorreitern. Und haben wir nicht sogar ein ganz grundsätzliches Problem mit technischem Fortschritt, sind wir nicht viel zu ängstlich, im Bereich Datenschutz so übersensibel, dass wir Innovationsdynamiken abwürgen? Nämlich dadurch, dass wir den für selbstlernenden KI-Systeme so wichtigen Zugriff auf große Datenmengen verhindern?

 

Industrie 4.0 – eine deutsche Erfindung

 

Das alles kann man sicher diskutieren. Doch Wolfgang Wahlsters Punkt ist folgender: Wir müssten gar nicht zwanghaft auf aktuell erfolgreiche Anwendungen aus China oder den USA schielen, die tatsächlich mit der Analyse großer Datenmengen, vor allem im Consumerbereich, erfolgreich sind. Unsere Stärke liege ganz woanders, nämlich im Bereich der industriellen Fertigung. Dort kämen schon heute KI-Systeme zum Einsatz, die auch ohne große Datenmengen sehr gut funktionieren, zum Beispiel bei der laufenden Überprüfung der Produktionsqualität mithilfe diverser Sensoren in unseren Smart Factories. „Das machen etwa Bosch, BMW und ZF: Dort kommen die Produkte nicht erst fertig am Bandende auf den Prüfstand, sondern sie werden laufend während der Produktion kontrolliert und notfalls nachgebessert – das spart enorm viel Geld und Zeit.“


Wahlsters Referenz auf vernetzte Produktionsanlagen mag nicht überraschen, schließlich hat er den dafür inzwischen allseits bekannten Begriff Industrie 4.0 mit geprägt, das war auf der Hannover Messe 2011. Die Idee war damals, die Verschmelzung von realer und virtueller Welt in sogenannten cyber-physischen Systemen als neuen Meilenstein der Industrieproduktion zu definieren. „Nach der Wirtschaftskrise, die Deutschland ja relativ unbeschadet überstanden hatte, war klar: Wir haben das unserer Stärke im Bereich der industriellen Produktion zu verdanken. Also wollten wir ein Zukunftsprojekt starten, das uns die Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich sichert. Das war Industrie 4.0“, erinnert sich Professor Dr. Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und einer der Experten, damals ebenfalls vor Ort.

 

Mit der Datenbrille am Produktionsband

 

Seither tüfteln deutsche Forschungseinrichtungen und Unternehmen intensiv am Einsatz digitaler Technologien in der Produktion. Wie solche Lösungen konkret aussehen können, beschreibt etwa das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) mit seiner IT-Lösung namens InsideOut. So könnte ein 3D-Drucker in einer modernen Fertigungshalle über eine IT-Schnittstelle laufend Daten ausgeben. Diese werden von einer Software mit einem virtuellen Abbild der Maschine verknüpft. Auf einem Touchmonitor oder Smartphone sieht ein Arbeiter das animierte Modell der Maschine und kann mit diesem interagieren. Ein Klick auf das Heizbett genügt, um sich die Temperatur anzeigen zu lassen. Auch der Füllstand und die Koordinaten des Druckkopfes können ausgelesen werden. Hat der Arbeiter eine Datenbrille auf, berührt er die entsprechende Stelle einfach an der realen Maschine und bekommt die Daten auf seinem Augmented-Reality-Display angezeigt.


Des Weiteren, so in den Beschreibungen des Fraunhofer IPA nachzulesen, ist es möglich, Informationen zu filtern und bedarfsgerecht anzeigen zu lassen. So werde es möglich, einem Instandhalter Fehlermeldungen anzuzeigen, einem Geschäftsführer Produktivitätskennzahlen und einem Maschinenbauer Bedienungsanleitungen. Dadurch seien weniger Rückfragen notwendig. Zukünftig sei auch denkbar, einen Alarm einzubauen und den Nutzer zu warnen, wenn bestimmte Grenzwerte über- oder unterschritten werden.

 

Moderne Produktion bei Siemens und Adidas

 

Ein weiteres Beispiel: Das Siemens-Werk im fränkischen Amberg. Dort kann der Werksleiter den gesamten Produktionsprozess überwachen. Dazu ist jedes Bauteil einzeln identifizierbar. Beispielsweise wird festgehalten, wann was in welcher Maschine bei welcher Temperatur gelötet wurde oder welches Drehmoment die Maschine gerade hatte. So kommen jeden Tag mehr als 50 Millionen Datensätze zusammen. Die Daten werden live ausgewertet und die Produktion umfassend analysiert. Die Prozessqualität im Werk liegt bei 99,9988 Prozent.


Daten können aber nicht nur dazu verwendet werden, Produktionsprozesse zu optimieren, sondern ermöglichen auch die Entwicklung neuer Produkte und Geschäftsmodelle. Zu sehen zum Beispiel in der sogenannten Speedfactory des Sportartikelherstellers Adidas im fränkischen Ansbach. In der vollautomatisierten, von Robotern geführten Fabrik werden die Daten der späteren Nutzer dafür verwendet, die Schuhe in der Produktion optimal an die Designvorstellungen und anatomischen Eigenheiten der Träger anzupassen. Durch die direkte Umsetzung vom Entwurf in die digitalisierte Fertigung, auch unter dem Einsatz von 3D-Druckern, verkürzt sich die Produktionszeit in der Schuhherstellung dramatisch. Das macht Adidas hochflexibel in der Reaktion auf sich verändernde Kundenwünsche.

 

Künstliche Intelligenz in der Smart Factory

 

Doch wo liegen nun die von Wolfgang Wahlster dezidiert angesprochenen Anwendungsbereiche für KI in solchen smarten Fabriken? Beispielsweise in der Überwachung von Energieübertragungs- und -verteilnetzen. Mit ihrer Hilfe werden Netzlasten und Einspeisung regenerativer Energien prognostiziert. Auch bei der Überwachung von Maschinen, wie sie bei Siemens in Amberg zum Einsatz kommen, der sogenannten Predictive-Maintenance, kommt KI zum Einsatz. Ein KI-System lernt aus Daten wie Schwingungsmessung, Spannungsverlauf, Temperatur und Druck und kann daraus erkennen, wann eine Maschine auszufallen droht. Das erlaubt ein rechtzeitiges Eingreifen und ermöglicht eine Maschinenwartung mit minimalem Aufwand.


Wie stark sich dieser Ansatz von den aktuellen Ansätzen im Bereich maschinelles Lernen unterscheiden, beschreibt Prof. Dr. Kristian Kersting auf der Website der Plattform Lernende Systeme, einer Initiative des BMBF und acatech. Wie der Mensch auch aus wenigen Beispielen gut generalisieren kann, müsse, so Kersting, auch maschinelles Lernen mit weniger Daten möglich sein. „Wie löst eine Maschine komplexe Aufgaben, in der Unvorhergesehenes passieren kann? Nehmen Sie die Industrieproduktion, da ist nicht bekannt, welche Fehler auftreten können. Daher gibt es nur wenige Trainingsbeispiele für Algorithmen. Aber auch mit dieser Datengrundlage müssen wir es schaffen, Fehler zu vermeiden, die zu Fehlproduktionen führen. Sobald das möglich ist, werden Daten nicht mehr der große Wettbewerbsvorteil sein. Dann kann es zum Vorteil werden, Datenschutz und Privatsphäre zu gewährleisten.“

 

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